Grammatik ist eine trockene und komplizierte Materie. Das denken zumindest die meisten Menschen. Doch wie schwierig ist Grammatiklernen wirklich? Wie ist Grammatik in unserem Gehirn gespeichert? Und welche Grammatik-Übungen erleichtern uns das Sprachenlernen? Wir widmen uns heute diesen Fragen.
Wie wichtig ist Grammatik?
Gene entscheiden darüber, wie groß Sie sind, welche Farbe Ihre Augen haben und wie anfällig Sie für diverse Krankheiten sind. Sie entscheiden zum Teil auch darüber, wie gut Sie sich in der eigenen Muttersprache ausdrücken können. Schon in frühen Jahrhunderten waren Wissenschaftler der Meinung, der Mensch wird mit der Fähigkeit geboren, Sprache verstehen und erlernen zu können. Es gäbe einen Mechanismus, der weiß, wie Sätze konstruiert werden müssen. Die meisten Neurowissenschaftler und Psychologen widersprechen diesem Standpunkt jedoch. Laut ihnen lernen wir rein durch Erfahrung, wie Sätze richtig konstruiert werden müssen.
Diese Theorie der angeborenen Grammatik-Fähigkeit wurde 2016 von Wissenschaftlern[1] des Max-Plack-Instituts für empirische Ästhetik und der New York University unterstützt. Einer der Autoren, David Poeppel, erklärt:
„Unsere neurophysiologischen Befunde unterstützen diese Theorie: Wir verstehen den Sinn von aneinandergereihten Wörtern, weil unser Gehirn diese einzelnen Bestandteile kombiniert und dann hierarchisch sortiert. Dieser Prozess zeigt, dass wir über eine Art inneren Grammatik-Mechanismus verfügen.“
Die Studie untersuchte, wie das Gehirn Wortsequenzen (z.B. „wütend grün schlafen farblos“, Phrasen (z.B. „wütend schlafen“) oder Sätze (z.B. „Farblose grüne Ideen schlafen wütend“) erkennt und verarbeitet. Dabei wurde auf intonatorische Merkmale und andere Wortinformationen (z.B. Stimme senken am Ende des Satzes), die von anderen Theorien als notwendige Voraussetzung angesehen werden, abgesehen.
„Unser Gehirn zielt zunächst auf Worte ab, bevor es dann versucht, Phrasen oder Sätze zu verstehen. Das zeigt, dass wir bei der Verarbeitung von Sprache auf der Grundlage von Grammatik aufbauen.“
David Poeppel
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Warum ist das Lernen von Grammatik oft hinderlich?
Das Erlernen einer neuen Sprache ist eine komplexe Aufgabe. Neue Wörter müssen gemerkt und gleichzeitig grammatikalisch richtig zusammengesetzt werden. Dazu kommt noch die korrekte Aussprache und ein gutes Hörverstehen, um im Dialog kommunizieren zu können.
Traditionelles Pauken von Vokabeln und Grammatikregeln speichert Wissen in einzelnen Kategorien ab. Für die Grammatik ist das sogenannte Broca-Areal zuständig, für die Wörter das Wernicke-Areal. Vera F. Birkenbihl nannte diese Kategorien „Schubladen”.
Lernen Sie etwa „Tisch – table (engl.)“, wird diese Wortverbindung in der einen Schublade abgelegt. Grammatikregeln liegen aber in einer anderen Schublade. Möchten Sie nun einen korrekten Satz formulieren, müssen erst zahlreiche Schubladen geöffnet werden, um mühsam einen Satz formulieren zu können. So werden Sie (vermutlich) nie in der Lage sein, fließend zu sprechen.
Lernen Sie hingegen in ganzen Sätzen, lernen Sie Wortbedeutung und Grammatik in einem. Diese Syntax, also die Kombination aus Regeln und Wörtern, wird laut bahnbrechender Erkenntnis von Angela Friederici[2] in einem bestimmten Nervenfaserbündel (Fasciculus arcuatus) abgespeichert. Dieses ist bei Affen ganz schwach ausgeprägt, weswegen sie zwar Wörter lernen, aber keine Kombinationen bilden können. Bei neugeborenen Kindern ist dieses Bündel noch nicht voll funktionstüchtig, es entwickelt sich später aber bei jedem Menschen. Verbinden Sie beim Fremdsprachenlernen von Anfang an Wörter mit Sprachstruktur und -aufbau, lernen Sie schneller und das Anwenden wird leichter – Sie sprechen fließender.
Abstraktion: Die neuronale Fähigkeit, Regeln abzuleiten
Wann verwendet man im Deutschen die Zeitform „Futur 2“? Können Sie die Grammatik Ihrer Muttersprache erklären? Wenn ja, sind Sie vermutlich LehrerIn und müssen das wissen, weil es der Lehrplan so verlangt. Im Alltag ist das Wissen um Grammatikregeln allerdings nicht gefragt. Doch warum können wir die richtige Zeitform anwenden, ohne die Regeln dahinter zu kennen? Weil wir unsere Muttersprache unbewusst gelernt haben. Durch monatelanges Zuhören und anschließendes Nachahmen sprechen wir unsere Muttersprache heute ohne dabei über komplizierte Regeln nachdenken zu müssen.
Das menschliche neuronale Netzwerk ist optimal dafür ausgerüstet, um aus Beispielen und Mustern zu lernen und „Regeln“ automatisch abzuleiten. Diese Fähigkeit des Gehirns kennen wir in vielen Situation des Lebens: Fußballbegeisterte Kinder wissen, wann ein Spieler im Abseits steht, kann die Abseits-Regel jedoch nur selten genau erklären. Viele Musiker beherrschen Instrumente virtuos, ohne Noten lesen zu können. Menschen können oft meisterhaft mit Sprachen umgehen, würden in einem Grammatiktest jedoch durchfallen, weil sie mit Begriffen wie „Deklination“, „Modi der Verben“ oder „starke Konjugation“ nichts anfangen können.
„Füttert“ man uns mit Regeln, ist kein eigenes Erforschen mehr möglich. Beiläufiges Lernen, das viel einfacher und nachhaltiger wäre, ist im heutigen Bildungssystem leider kaum möglich. Doch Sie können Ihre Lern-Gewohnheit selbst ändern und anpassen!
Unser Gehirn versucht automatisch Regeln zu abstrahieren. Deshalb ist das Auswendiglernen von Grammatikregeln einer (Fremd-)Sprache gar nicht nötig.
Fremdsprache vs. Muttersprache – gibt es Unterschiede in der Verarbeitung?
Max-Planck-Forscher in den Niederlanden[3] haben 2016 erstmals Bilder vom Gehirn aufgenommen, während Probanden gerade eine neue Sprache lernten. Es wurde eine künstliche, irreale Sprache verwendet, um den Einfluss von Vorkenntnissen zu verhindern. Das Resultat zeigte auf, dass neue Sprachen in denselben Hirnregionen verarbeitet und Informationen abgespeichert werden, wie die Muttersprache.
Das Gehirn vergleicht, ob die grammatikalischen Eigenschaften der neuen Sprache den grammatikalischen Eigenschaften der Muttersprache ähneln. Es entscheidet, ob bekannte Grammatik angewandt werden kann, oder neue Regeln angelegt werden müssen. Erstmals haben Forscher bewiesen, dass es uns aus diesem Grund leichter fällt, Sprachen zu lernen, die unserer Muttersprache ähneln. Autorin Kirsten Weber:
„Eine bekannte Struktur wiederholt zu verarbeiten, beansprucht das Gehirn deutlich weniger.“
Wurden die unbekannten Wortstellungen wiederholt (Fremdsprache ist der Grammatik der Muttersprache unähnlich), so erhöhte sich die Hirntätigkeit in den Regionen des Gehirns, die auch für die Muttersprache genutzt werden.
„Die stärkere Aktivierung könnte einen speziellen Mechanismus im Gehirn widerspiegeln. Damit wird vermutlich ein neuronales Netzwerk aufgebaut, das Regelmäßigkeiten bei neuen Wortstellungen erkennt und verarbeitet.“
Damit unterstützt die Studie Vera F. Birkenbihls Annahme über die automatische Abstraktionsfähigkeit von Regeln.
Die perfekte Grammatik-Übung zum Sprachenlernen: De-Kodieren
Verbinden wir nun die Erkenntnisse der Wissenschaft, können wir Folgendes zusammenfassen:
- Beim Verstehen achten wir zuerst auf Wörter, erst dann auf den Zusammenhang (Phrasen, Sätze, Grammatik)
- Lernen wir Grammatik und Vokabeln separat voneinander, wird das Wissen in unterschiedlichen „Schubladen“ abgelegt. Lernen wir sie gemeinsam und gleichzeitig, lernen wir Sprachen schneller und fließend.
- Das Gehirn verfügt über eine automatische Abstraktionsfähigkeit, mit welcher (Grammatik)-Regeln unbewusst verstanden und später richtig angewandt werden.
- Neue Sprachfähigkeiten werden in denselben Hirnarealen verarbeitet und gespeichert, wie die Muttersprache. Außerdem hilft es uns, Fremdsprachen mit der Muttersprache zu vergleichen.
Unser Tipp für die effektivste Grammatik-Übung:
Das De-Kodieren ist im Wesentlichen eine Wort-für-Wort-Übersetzung eines Satzes. Indem wir die Fremdsprache in Einzelteile unterteilen, „entschlüsseln“ wird sie Stück für Stück.
Dazu nehmen Sie einen selbst ausgewählten Text zur Hand und übersetzen ihn selbstständig und interlinear. Selbstständig bedeutet, dass Sie zuerst versuchen, die Bedeutung der einzelnen Wörter ohne Hilfe zu übersetzen. Wörter, die Sie noch nicht kennen, können danach im Wörterbuch nachgeschlagen werden. Interlinear bedeutet, dass Sie zwischen jeder Textzeile eine Leerzeile einfügen und diese für die Übersetzung nutzen.
Beim De-Kodieren ist es außerordentlich wichtig, dass Sie Wort für Wort übersetzen (anstatt sinngemäß). Damit lernen Sie ganze Sätze, nicht nur isolierte Wörter.
Beispiel einer Wort-für-Wort-Übersetzung versus einer sinngemäßen Übersetzung:
Sinngemäße Übersetzung: Wir freuen uns, mit Ihnen zu arbeiten.
Der Gedanke der 1:1-Übersetzung geht auf die automatischen Abläufe in unserem Gehirn zurück. Intuitiv und automatisch lernen Sie:
- die Bedeutung von Wörtern
- die Logik eines Satzes, wiederkehrende Phrasen, Grammatik
- kulturelle Aspekte der Sprache (wann wird welches Wort verwendet)
Eine Interlinearübersetzung folgt der Struktur der Ausgangssprache. Dadurch ergibt sich eine Übersetzung, die in der Muttersprache grammatikalisch unkorrekt ist, jedoch den Blick auf die “Hintergründe” der Fremdsprache richtet.
Sie de-kodieren die Fremdsprache nach den Mustern und Regeln Ihrer eigenen Muttersprache – so genau wie möglich. Das bedeutet, Sie übernehmen auch die Anpassung der Endungen, Fälle, Pluralbildungen und Verben. Das erleichtert Ihrem Gehirn das Abstrahieren der Grammatikregeln der Fremdsprache, weil der Vergleich zur Muttersprache einfacher wird.
Vor allem zu Beginn des Lernprozesses ist das De-Kodieren wichtig, denn nur so verstehen wir die Fremdsprache wirklich und lernen gehirn-gerecht. Die Muttersprache dient als „Brücke“, die wir nutzen, um intuitiv und schnell zu lernen. Irgendwann benötigen wir sie nicht mehr.
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[1] Ding, N., Melloni, L., Zhang, H., Tian, X., & Poeppel, D. (2016) Cortical Tracking of Hierarchical Linguistic Structures in Connected Speech. Nature Neuroscience 19, 158–164
[2] Angela Friederici und Noam Chomsky (2017). Language in Our Brain: The Origins of a Uniquely Human Capacity.
[3] Weber, K., Christiansen, M.H., Petersson, K. M., Indefrey, P., & Hagoort, P. (2016) fMRI syntactic and lexical repetition effects reveal the initial stages of learning a new language. Journal of Neuroscience, 36 (26) 6872-6880
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